Liebe Genossinnen und Genossen,
liebe Interessierte,
wir freuen uns über das Interesse an unserem innerparteilichen Thesenpapaier „Der starke Staat als Garant der Freiheit!“. Wir würden uns glücklich schätzen, wenn es die aktuelle strategische Debatte innerhalb der SPD um den einen oder anderen Gedanken bereichern könnte.
Danken wollen wir dem SPD-Bezirk Hessen-Süd für seine Bereitschaft, in der Regionalbeilage des Vorwärts eine überarbeitete Fassung des Textes abzudrucken. Auf dieser Seite findet Ihr die vollständige Fassung (alternativ auch hier als .pdf). Wir würden uns über ein Feedback (hier klicken) freuen.
Solidarische Grüße

Andreas Bär

Dr. André Kavai
Der starke Staat als Garant der Freiheit!
Die SPD vor der Bundestagswahl 2021
Die gegenwärtige demoskopische Situation der deutschen Sozialdemokratie ist auch bei wohlwollender Betrachtung bescheiden. Erzielte die SPD bei der Bundestagswahl im Jahr 2005 noch 34,2 % der Wählerstimmen, erreichte sie nach 25,7% im Jahr 2013 gerade noch 20,5% im Jahr 2017. Es gibt bisher kaum Anzeichen dafür, dass die Sozialdemokratie das vergangene Ergebnis nochmals erreichen oder gar übertreffen wird. Nach einer dramatischen Phase rund um den Eintritt in eine erneute Regierungsbeteiligung mit der Union und einer denkwürdigen Neuwahl der Parteiführung konnte sich die SPD in der tagtäglichen Regierungsarbeit zunächst stabilisieren und dank solider bis starker Ressortleistungen zum gestaltenden Teil der Bundesregierung entwickeln.
Es wirkt fast paradox: In der Zeit der Pandemie ist die SPD in der Großen Koalition staatspolitischer Stabilitätsanker. Erneut agiert sie in einer Zeit der Umbrüche, in die auch die Ratspräsidentschaft der Bundesrepublik in der EU fällt, als verlässlicher und gestaltender politischer Akteur. Gleichzeitig bewahrheitet sich jedoch demoskopisch die alte Weisheit, dass Krisenzeiten ganz besonders Kanzler(innen)zeiten sind. Man darf gespannt sein, ob es der CDU und ihrem neuen Vorsitzenden Armin Laschet gelingen wird, die primär Angela Merkel zu verdankenden Zustimmungswerte beizubehalten. Diese Frage stellt sich vor allem im Hinblick auf die konservative und wirtschaftsliberale Wählerschaft der CDU, deren Treue zur CDU insbesondere auf der Hoffnung einer inhaltlichen Neu-Ausrichtung in der Post-Merkel-Ära fußte, die nun aller Wahrscheinlichkeit nach nicht stattfinden wird.
Trotz guter Arbeit in der Bundesregierung fehlt der SPD programmatisch nicht nur ein zielführendes Profil für die anstehende Bundestagswahl, sondern auch eine thematische Leitidee für die kommenden Jahre. Die Themenkomplexe Klima und Umwelt auf der einen, Migration und Integration auf der anderen Seite werden weiterhin die Grünen stärken und die AfD stabilisieren. Dabei speist die sich die Zustimmung der AfD auch weiterhin zu einem signifikanten Teil aus dem Nichtwählerreservoir. Betrachtet man die dem Trend nach rückläufigen Wahlbeteiligungen der letzten Jahrzehnte zusammen mit der – insbesondere durch die AfD – erfolgreichen Mobilisierung von Nichtwählern in den vergangenen 5 Jahren, dann erkennen wir darin eine wesentliche Ursache für die aktuellen Veränderungen in der bundesrepublikanischen Parteiendemokratie. Es ist daher unverständlich, dass es in der Sozialdemokratie bislang keine nennenswerte Debatte über die (Rück-)Gewinnung von Nichtwählerpotentialen gibt, die im Ergebnis erfolgreicher sein könnte als der Konkurrenzkampf um die verbliebene (potentielle) Wählerschaft. Die CDU hingegen wird weiterhin auf Kosten ihrer wertkonservativen und wirtschaftsliberalen Wählerschaft in den Revieren von SPD und Grünen wildern. Eine Strategie, die zwar ihre direkte Konkurrenz um die Kanzlerschaft schwächt, umgekehrt aber eine Stärkung von FDP und insbesondere AfD bewusst und billigend in Kauf nimmt.
Als authentische und aktuelle Interpretation der sozialdemokratische Grundidee, die in den kommenden Jahren ein für viele Wählerinnen und Wähler attraktives Angebot darstellt, schlagen wir vor:
„Der starke Staat als Garant der Freiheit!“
Der Ansatz, aktives staatliches Handeln zum Zweck der Gemeinwohlorientierung mit einer maximalmöglichen persönlichen Freiheit des Individuums zu verbinden, zieht sich über viele Generationen durch die Geschichte der Sozialdemokratie. Die Idee der positiven Freiheit, also der Freiheit zu selbstbestimmten, von Zwängen befreitem Handeln, ist ein zentrales Element in der Geschichte unserer Partei. In der aktuellen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformation sehnen sich die Menschen nach Sicherheit und Stabilität, verbunden mit einer glaubwürdigen Perspektive einer lebenswerten Zukunft für sie, ihre Umwelt und die nachfolgenden Generationen. Ein zukunftssicheres Gemeinwesen sowie ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung ist für die Menschen in unserem Land und damit auch für die SPD aktueller denn je.
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Der starke Staat schützt das vielfältige Deutschland
Deutschland ist den vergangenen Jahren vielfältiger geworden. Sowohl durch anhaltende Einwanderung, als auch durch die weitere Pluralisierung der Lebensstile und Kulturen. Parallel dazu erleben wir eine Zunahme des religiösen und politischen Extremismus, vor allem von rechts. Die Sicherstellung der freien Entfaltung jedes Einzelnen ist eine zentrale, grundgesetzlich verbriefte Aufgabe des Staates. Auch aus diesem Grund beantragen Menschen in Deutschland Asyl. Der starke Staat schützt daher das Individuum und die Gesellschaft vor denen, die die Freiheit bekämpfen wollen. Aber auch vor Verbrechen im Alltag. Dazu braucht es neben einem entsprechenden Rechtsrahmen vor allem eine aktive Zivilgesellschaft sowie eine leistungsstarke Verwaltung, Polizei und Justiz. Es darf keine Toleranz gegenüber Intoleranz und Kriminalität geben, sondern die Freiheit und die Unversehrtheit des Einzelnen muss durch den Staat geschützt werden. Nur auf diesem Weg kann das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat zu erhalten werden. Dies bedingt auch, dass im Alltag geltendes Recht umgesetzt wird.
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Der starke Staat schafft die Voraussetzungen für die „Gute Arbeit der Zukunft“
In den letzten Jahren hat die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland stetig zugenommen. Auch in Zukunft wird die Erwerbstätigkeit eine zentrale volkswirtschaftliche und individuelle Relevanz haben, allen anderslautenden Unkenrufen zum Trotz. Das Versprechen, der großen Mehrheit unserer Gesellschaft Wohlstand, Aufstieg und Teilhabe zu ermöglichen, ist seit jeher Antrieb und Ziel der sozialdemokratischen Bewegung. Diesem Versprechen ist man in Zeiten von Vollbeschäftigung, kräftigen Reallohnzuwächsen und einem zunächst Um-, dann Ausbau der sozialen Sicherungssystemen in den vergangenen Jahren im Grundsatz weiter nähergekommen. In den letzten Jahren erleichterten zahlreiche Maßnahmen, insbesondere auf Treiben der SPD, die Situation von Erwerbstätigen und Familien. Gleichzeitig muss man feststellen, dass es in verschiedenen Arbeitsmarktbereichen weiterhin eine große Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse gibt. Trotz z.B. Mindestlohn und rechtlicher Fortschritte besteht an dieser Stelle weiterer (Re-)Regulierungsbedarf.
Während aktuell Beschäftigte im Handels- und Dienstleistungsbereich trotz staatlicher Hilfen um ihren Arbeitsplatz fürchten, war es parallel in kurzer Zeit möglich, zahlreiche oftmals qualifizierte Arbeitsplätze in die Heimarbeit zu verlegen. Entsprechend muss der starke Staat rechtlich und wirtschaftlich gerade die Menschen schützen, die nicht als Gewinner aus den Globalisierungs- und Liberalisierungstendenzen hervorgingen.
Die freie berufliche Entfaltung des Individuums und die Notwendigkeit zur Ausbildung von Fachkräften finden in einem starken Bildungssystem ihre politische Grundlage. Gut ausgebildete und kreative Menschen bleiben Deutschlands Garant für Prosperität. Die Corona-Pandemie hat schonungslos die Defizite im Bildungsbereich offengelegt: Unzureichende bauliche und technische Ausstattungen der Schulen, fehlende Unterstützung für Lernende, deren Eltern und Lehrende sowie eine Überforderung der Ministerialbürokratien. So verständlich der Wunsch nach Länderautonomie über das Bildungswesen ist, so wenig praxistauglich erscheint es gerade in der jetzigen Zeit. Notwendig sind daher mehr Mittel für den Bildungsbereich und eine stärkere Koordinierung des Bildungssektors.
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Der starke Staat ermöglicht den Rahmen für erfolgreiches Wirtschaften
Die Freiheit der Persönlichkeit ist die Triebfeder für Innovation und Wohlstand. Der starke Staat bietet einen verlässlichen und attraktiven Rahmen für erfolgreiche wirtschaftliche Unternehmungen. Eine effiziente Bürokratie, ein kalkulierbarer Rechtsrahmen samt Schutz von Arbeitsnehmerrechten, Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Forschung sowie die Förderung einer Innovations- und Gründerkultur bilden die Grundlage für die Zukunftsfähigkeit des Standorts Deutschlands. Globale Produktions- und Lieferketten haben sich während der Krise als fragil erwiesen, lokale Produkte und Reiseziele erlebten eine Renaissance. Diese Entwicklungen bieten Chancen für den nationalen Standort und den Schutz unserer Umwelt, wenn sie staatlich sinnvoll flankiert werden.
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Der starke Staat fördert Digitalisierung – und schützt vor ihren negativen Folgen
Wir können im Bereich der Digitalisierung der Arbeitswelt beobachten, dass in der Transformation von Geschäftsprozessen ein enormes Produktivitätspotential steckt. Wir brauchen den starken Staat samt europäischer Regelungen, um dieses Potential zu heben, ohne dabei unsere moralischen und datenschutzrechtlichen Ansprüche aufzugeben. Das gegenwärtige Internet ist nicht der demokratische, liberale und geschützte Raum, der die individuelle Entfaltung und Demokratisierung der Gesellschaft vorantreibt. Handel und Dienstleistungen samt den dahinterstehenden Daten werden im Internet von wenigen, vor allem amerikanischen und chinesischen, Konzernen kontrolliert. Soziale Medien gelten nach einer Phase der Euphorie in der individuellen wie politischen Kommunikation als destruktiv. Auf nationaler und europäischer Ebene müssen diese Entwicklungen gestoppt werden. Die Geschäftsmodelle zu Lasten der Menschen und Nationalstaaten müssen durch stärkere Kontrolle (und übrigens auch Besteuerung!) der Konzerne und ihres Handelns geändert werden.
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Das starke (Kern-)Europa und dessen Rolle in der Welt
Die EU muss mehr sein als Beitragsverteilungsmaschine, Freihandelszone und taktisches Bündnis sein. Sie muss eine Union auf Basis des humanistischen Menschenideals und der Idee der Demokratie sein. Ihre Mitgliedsstaaten sind in der Bekämpfung des Klimawandels, in der gemeinsamen (Cyber-)Sicherheits- und Außenpolitik sowie in der Durchsetzung von gemeinsamen Standards in der Steuer- und Sozialpolitik aufeinander angewiesen. Ebenso sind sie darauf angewiesen, dass sie wechselseitig in bi- und multilateralen (teils verbindlich organisierten) Kooperationen für Frieden und Freiheit einstehen. Zur Wahrheit gehört gleichermaßen die Erkenntnis, dass wir von diesem Zustand weit entfernt sind. Daher sind Konsequenzen aus den nationalen Alleingängen der letzten Jahre zu ziehen: Ein Kerneuropa, das sich in zentralen Fragen einig ist, darf nicht länger durch Erpressungsmanöver einzelner Staaten, die sich ihr angedrohtes Veto finanziell wie rechtlich-moralisch teuer abkaufen lassen, aufgehalten werden. Die Konsequenzen dieser Erkenntnis sind unangenehm, wie auch die notwendigen Außeneinsätze europäischer Militärs zur Sicherung von Frieden und Menschenrechten. Ein Eingreifen von EU-Streitkräften hätte menschliche und geopolitische Katastrophen wie z.B. in Syrien verhindern können.
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Der starke Staat schafft Perspektiven für den sozialökologischen Umbau
Politisch bemerkenswert ist während der Corona-Pandemie das Erstarken des Staates als ein das öffentliche Leben regulierender und gleichzeitig aktiver wirtschaftlicher Akteur. Beides galt in den letzten Jahren in dieser Form als nicht möglich. Dies macht Mut, dass die genannten Ziele erreicht werden können, aber auch das Megathema Klimawandel samt dem notwendigen Erhalt der Grundlagen unseres Planeten angegangen werden kann. Dabei dürfen wir nicht den Fehler machen, einseitige Prioritäten zu setzen. Der starke Staat muss dem Klimawandel entschlossen begegnen und unsere Umwelt stärker als bisher schützen, aber gleichzeitig auch langfristige Perspektiven für Beschäftigte und Unternehmen schaffen. Ziel muss es sein, die überfällige Transformation zu einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft im Rahmen eines fairen Strukturwandels zu realisieren und die klimaneutrale EU bis 2050 zu erreichen. Dabei sollte Deutschland Vorreiter sein. Aus diesem Grund ist es richtig, die mittel- und langfristigen Förderprogramme an den Grundlinien des European Green Deal auszurichten.
Die Autoren:
Andreas Bär, seit 2002 Mitglied der SPD, OV Nidderau, UB Main-Kinzig,
Dr. André Kavai, seit 1993 Mitglied der SPD, OV Erlensee, UB Main-Kinzig